Abgrenzung lernen und Selbstverantwortung übernehmen

„Lissy, Liebes, du fährst doch in der Mittagspause in die Stadt, oder? Kannst Du mir mein Kleid von der Schneiderei mitbringen? Ich schaff das heute Abend sonst nicht pünktlich!“ Seufzend nahm Elisabeth den hingehaltenen Abholschein ihrer Kollegin in die Hand und schaute auf die Adresse. „Aber das ist doch direkt bei Deiner Wohnung. Ich müsste da erst quer durch die ganze Stadt fahren! Das passt mir, um ehrlich zu sein, nicht, da ich sonst gar keine Pause mehr habe.“ Erwiderte sie. „Ach, für dich ist das doch ein Katzensprung. Ich hab heute Abend nicht viel Zeit, weil wir zum Essen eingeladen sind. Das Essen ist wichtig! Du machst das doch für mich, oder? Bitte! Danke Dir!“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, war Simone schon wieder im Meeting verschwunden und ließ die verdutzte Elisabeth stehen.

Der quengelnde Ton und die Überrumpelungstaktik fruchteten erneut. Elisabeth ärgerte sich über ihre eigene Gutmütigkeit. Ihre Kollegin Tanja sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Schon wieder? Wann macht sie denn mal was für dich?“ – „Letzte Woche hat sie mich am Telefon vertreten, damit ich früher loskonnte.“ gab Elisabeth zurück. Tanja lachte: „Klar, sie musste ja ohnehin hierbleiben und auf die Entwürfe vom Webdesigner warten. Daher hatte sie mit dem Telefondienst keine Extra-Arbeit. Und da du zum Arzt musstest, sollte das selbstverständlich sein. Ich würde ihr mal ein klares ’nein‘ bei solchen Sachen geben. Was sagt der Arzt überhaupt? Alles okay?“

Ein klares ’nein‘. Genau dieses Wort hatte der Arzt ihr ebenfalls empfohlen. Sie hatte mit ihm über ihre Situation gesprochen und über den Umstand, sich ständig müde und ausgebrannt zu fühlen. Er hatte ihr erläutert, dass sie kurz vor einem Burnout stünde und lernen müsse, bei Extraaufgaben auf der Arbeit wie privat auch mal abzulehnen oder gar selbst mal einige Aufgaben abzugeben. Sein Angebot, sie erst mal krank zu schreiben, hatte sie abgelehnt, doch sie musste ihm versprechen, bald wieder zu kommen und bis dahin mehr für sich zu tun.

„Alles soweit okay, ich brauch nur ein bisschen mehr Ruhe und Entspannung.“ antwortete sie. Der skeptische Blick von Tanja entging ihr nicht. Doch dann holte sie tief Luft und fragte: „Würdest Du mich eventuell begleiten? Vielleicht kriegen wir das zusammen schneller erledigt und es bleibt eventuell trotzdem noch Zeit für einen gemeinsamen Kaffee.“

Die eigenen Grenzen kennen lernen
Im beruflichen wie im privaten Umfeld kennen wir alle Menschen, die immer für andere zur Verfügung stehen. Es sind immer dieselben Personen, die für die Organisation von Projekten oder beim Betriebsfest zusätzliche Arbeit leisten, bei Festen im Verein oder bei privaten Gelegenheiten hilfreich mit anpacken, während auch immer die gleichen Personen nur verbal mithelfen und den anderen bei der anstehenden Arbeit zuschauen.

Die steten Helfer haben eines gemeinsam: Sie fühlen sich gut dabei, anderen zu helfen. Sie schöpfen Kraft und neue Energie aus der Dankbarkeit und der Anerkennung der Anderen. Sie haben den persönlichen Anspruch, anderen bei Bedarf zu helfen. Dieser soziale Umgang mit dem Umfeld ist grundlegend von einer wunderbaren Einstellung geprägt, die unser Leben zwischenmenschlich bereichern. Zumindest so lange, wie das Geben und Nehmen in einem gesunden Gleichgewicht liegen.

In unserer Gesellschaft sind jedoch auch viele Menschen zu finden, die auf den eigenen Vorteil bedacht ihren Nutzen aus den Helfern ziehen. Der Ausgleich geht somit schnell verloren und das Beibehalten der steten Hilfe für andere mündet – bewusst oder unbewusst – in einer Selbstverständlichkeit bis hin zu einem Ausnutzen, das häufig zuerst vom Umfeld erkannt wird. Der Helfer hingegen braucht meist etwas Zeit, bis er das Ungleichgewicht zu seinen Ungunsten wahrnimmt. Die eigenen Kraftreserven werden für die anderen Menschen verbraucht, und wenngleich sich zunächst noch das gute Gefühl der Hilfestellung zeigt, wird dieses mit der Zeit immer weniger, bis es nicht mehr ausreicht, um die eigene Energie zu regenerieren.

Entsprechend ist es wichtig, seine eigenen Energiereserven im Auge zu behalten und nicht immer nur Hilfe zu geben, sondern diese umgekehrt auch mal zu erbitten. Selbstverantwortung bedeutet somit nicht nur in der Burnout-Vorsorge und -Behandlung, dass ein klares „Nein“ zur rechten Zeit dem Selbstschutz dient. Ein Hilfegesuch abzulehnen hat nichts mit egoistischem Verhalten im negativen Sinn zu tun, sondern mit einem gesunden Egoismus, der die Selbstfürsorge schätzt.

Gehören Sie selbst zu den Menschen, die stets Hilfestellung geben, ohne einen entsprechenden Ausgleich zu erhalten? Hinterfragen Sie sich selbst bei der nächsten Bitte, die an Sie herangetragen wird:
– Könnte die bittende Person die Aufgabe leicht selbst erledigen?
– Unterstützt der/die Fragesteller/in Sie ebenfalls bei Bedarf oder ist die Hilfestellung einseitig?
– Ist die Übernahme der Aufgabe für Sie ein geringerer Aufwand, als er es für den Bittenden wäre oder ist es ein unverhältnismäßiger Mehraufwand für Sie?
– Würden Sie im umgekehrten Fall die gleiche Person um Unterstützung bitten oder würden Sie es eher selbst erledigen?

Hören Sie dabei auch auf Ihr Bauchgefühl und lehnen Sie angetragene Aufgaben ruhigen Gewissens mit einem freundlichen, aber bestimmten „Nein“ ab, wenn Sie das Gefühl haben, mit diesem Mehraufwand an Ihre Grenzen zu stoßen. Ihre Gesundheit wird es Ihnen danken!